Die Depression ist eine schwere Krankheit. Jeder kann sie bekommen. In jedem Alter
(Anmerkung des Betreibers dieser Website:
Dieser Artikel stammt von Regine Sylvester und erschien in der Berliner Zeitung am 12.07.2008
Ich finde den Beitrag immer noch beispielhaft und hilfreich.
Die Genehmigung zur nochmaligen Veröffentlichung in meinem Blog ist bei der Berliner Zeitung beantragt.
FönX)
Lach doch mal. Komm mit ins Kino. Wir haben auch unsere Probleme. Man darf nicht alles so schwarz sehen. Du steigerst dich in was rein. Du musst unter Leute gehen. Du musst dich aufraffen. Du lässt dir nicht helfen. Du machst es einem wirklich schwer.
So ungefähr reden hilflose Leute mit jemandem, den sie kennen und nicht mehr begreifen. Sie machen freundliche Angebote und bekommen keinen Dank, kein Lächeln. Ein vertrauter Mensch sitzt vor ihnen wie in einem gefrorenen Block. Er ist sichtbar, aber unzugänglich, unbeweglich. Aus der Welt gefallen.
Er hat eine Depression. Sie ist eine schwere Krankheit. Sie ist nicht ansteckend, dennoch ziehen sich die Nichtbetroffenen zurück.
Die Gesellschaft eines Depressiven ist belastend. Er kann sich in ein elendes Bündel verwandeln. Er weint und klagt oder starrt an die Wand und grübelt. Er sieht keine Zukunft, sein ganzes bisheriges Leben rutscht in einen dunklen, bodenlosen Spalt. In die radikalste Vereinsamung. Seine Familie hofft, dass die schlimme Zeit wieder vorbeigeht. Der Besucher, gekommen um zu helfen, fröstelt und flieht. Ein tieftrauriger Mensch hat wenig Freunde.
Wenn sich die Krankheit zurückzieht, und das macht sie zwischen den Phasen – der Mediziner nennt sie Episoden -, fühlt sich der vorläufig Genesene wieder gut. „Die Depris sind weg!“, ruft R., 62, weiblich, am Telefon. Dann ist sie wie erlöst und eine Person, die gerne lacht. Aus langem Schlaf erwacht wie Dornröschen. Aber sie weiß, dass sie auf dünnem Eis geht. Sie beobachtet sich immer voller Angst. Denn sie sieht, wenn die Depression kommt: „Eine haushohe Wand aus dunkelgrauer, nasser Watte, die sich heran schiebt. Manchmal kann ich noch wegrennen, manchmal umschließt sie mich. Dann bin ich eine Gefangene. Im schlimmsten Fall monatelang.
„Fast alle Betroffenen haben irgendein Bild für die Bedrohung. F., 35, weiblich, spürt ihre Depressionen als „etwas Großes, das sich auf mich drauf setzt. Ich breche darunter zusammen“. D., 44, weiblich, empfindet „ein ganz schweres Gewicht, das an mir zerrt“. N., 28, männlich, denkt, er sei „am Erlöschen. Ich habe nur Lust zu schlafen und nie mehr aufzuwachen.“ B., 43, weiblich, liegt „ein Alp auf der Brust. Er schnürt mir die Luft ab, ich kann nur gepresst sprechen. Wie man leidet! Welche Anspannung im Körper ist!“
Wie man leidet
Depressionen können jeden und in jedem Alter treffen. Sie werden nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2020 weltweit die zweithäufigste, in einigen Industriegesellschaften die häufigste Krankheit sein. Die Rate der Betroffenen ist bei Kindern fast so hoch wie bei Erwachsenen. Nach einer schwedischen Analyse kosten Depressionen in Europa jährlich 118 Milliarden Euro. Zwei Drittel der Kosten werden verursacht, weil viele Menschen mit Depression nicht arbeiten können. Rund 21 Millionen Europäer sollen von der Krankheit betroffen sein.
Zehn Prozent der Bundesbürger erkranken heute einmal oder mehrmals im Leben an einer schweren depressiven Episode. Bis zu 56 Prozent der Betroffenen begehen in ihrem Leben einen Selbstmordversuch, 15 Prozent der schwer Depressiven nehmen sich das Leben. In 70 Prozent aller Selbstmorde spielt diese Erkrankung eine Rolle. Das sind etwa 7 500 Tote im Jahr – mehr als alle Verkehrstoten, Verbrechensopfer, Aids- und Drogentoten zusammengenommen.
Depression ist mörderisch
Die Krankheit wird von den Hausärzten – meist sind sie die ersten Ansprechpartner – oft nicht rechtzeitig oder gar nicht erkannt, denn der Depressive zeigt ja tatsächlich körperliche Symptome. Man behandelt sein Herzrasen, seine Schlaflosigkeit, Blutdruck, Rückenschmerzen oder das Immunsystem. Nur zehn Prozent der Patienten erhalten in Deutschland eine Therapie, die dem Stand der Forschung entspricht.
Um dem Bedarf zu entsprechen, müsste ein Nervenarzt für 6000 zu versorgende Menschen zur Verfügung stehen. Tatsächlich ist heute ein Nervenarzt für 18 000 bis 24 000 Patienten zuständig. Am unzulänglichsten ist es im Osten in ländlichen Gebieten.
Der Psychiater Dr. Cammann, jetzt im Ruhestand, führte in der Nähe von Rostock eine Praxis. „Zuerst hatten wir acht Stühle, dann zehn, dann zwölf. Trotzdem standen die Patienten im Wartezimmer.“ Die Leute in Mecklenburg-Vorpommern haben oft eine Abneigung gegen den Nervenarzt: „Bekloppten-Doktor, so sagt man hier. Im Westen und in den großen Städten ist die Barriere nicht so hoch.“
Aber immer mehr Leute kommen mit dem Leben nicht zurecht, es gibt auch Zusammenhänge mit der Mentalität in einem Landstrich: „Der Mecklenburger kann schwer über sich reden, und er rührt sich nicht gern vom Fleck“, sagt der Psychiater. Heute ist der Mecklenburger überdurchschnittlich oft arbeitslos, hat oft Geld- und Partnerprobleme. Er muss unter Druck sein Naturell ändern – Kontakte aufnehmen, Bewerbungen schreiben, er muss rumhören und sich bewegen. Wenn er aus den Unglücksgefühlen nicht herausfindet, braucht er professionelle Hilfe.
Depressive suchen manchmal nach einem benennbaren Grund für ihre Schwermut. Ein Mann kam zum Arzt und sagte, er sei ganz sicher, einen Tumor zu haben. Es gab keinen Befund. Das Computertomogramm war in Ordnung. Er zeigte sich erleichtert. Einen Tag später hat sich dieser Mann in seiner Gartenlaube aufgehängt.
Männer bringen sich öfter um, am meisten töten sich sehr alte Männer. Frauen begehen häufiger Suizidversuche. Sie haben zwar nahezu dreimal häufiger als Männer depressive Störungen, aber sie reden darüber, sie entlasten sich so und sind leichter behandelbar. Männer fressen ihre Probleme eher in sich hinein, sie bagatellisieren oder verleugnen depressive Stimmungen. Bei Männern äußern sich die Symptome oft auch anders – durch Aggressivität, Wutausbrüche, extremes Risiko- oder Suchtverhalten. Sie fahren zu schnell Auto oder lassen sich volllaufen oder beides zusammen.
Man weiß nicht einmal genau, wie viele Männer Depressionen haben, die Dunkelziffer soll sehr hoch sein. Diese Krankheit passt nicht zum gängigen Selbstbild eines Mannes, der sich immer allein raushauen kann. Einsamer Wolf, Cowboy, Anführer. Der starke Mann.
„Ich war immer der Beste, immer ganz vorn. Das haben meine Eltern von Kindheit an von mir erwartet“, sagt T., 45, männlich. Er hielt den Druck lange aus, bis er große Stimmungsschwankungen erlebte. Er trieb extrem Sport, lief jahrelang Marathon und kam unter die Sieger. Dann entwickelte er eine Abneigung gegen das Essen. Er wurde immer dünner, wie ein Fädchen, das man bei einer Umarmung kaum noch spürte. Ein Mensch war am Verschwinden. Der attraktive Mann musste sich eingestehen, magersüchtig zu sein und bekam Angst um sein Leben. Er ließ sich von einer Gesprächstherapeutin behandeln. „Ich dachte, dass die was repariert bei mir. Wie ein Arzt. Ich habe den größten Mist erzählt, ich wollte sehen, was dann von ihr kommt. Aber die sagte nicht groß was. Ein halbes Jahr lang ging es so. Ich regte mich auf. Sie sagte, das sei die Behandlung. Wir haben uns angeschrien, wir haben geschwiegen. Dann bin ich heulend auf mich zurückgefallen. Von da an ging es mir besser, weil ich endlich ehrlich mit mir war. Diese Therapie hat mein Leben gerettet.
„Früher sprach man von Melancholie. Der Begriff – übersetzt: „Schwarze Galle“ – wird dem griechischen Arzt Hippokrates, um 400 v.Chr., zugeschrieben. Das Leiden geht durch die Menschen- und Kulturgeschichte. Michelangelo, Galilei, Luther, Mozart, Schiller, Van Gogh, Dostojewski, Kant, Caspar David Friedrich, Karl Marx, Picasso, Freud, Thomas Mann, Hemingway und viele, viele andere Berühmte sollen an Depressionen gelitten haben. Die Krankheit ist ein großes Thema in der Weltliteratur und in der bildenden Kunst.
Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts setzte der Psychiater Emil Kraepelin die Anerkennung der Depression als Krankheit durch. In der Öffentlichkeit wurde das Themas lange tabuisiert. Und auch in den Familien: Heute erzählen Enkel von einer Großtante, die immer still bei Tische gesessen haben soll, bis sie sich umbrachte. Niemand wollte darüber reden. Scham drückte die Kranken und ihre Angehörigen.
Man liest, dass die Anzahl der Depressionen bestürzend zunimmt. Aber das muss nicht so sein. Genau weiß es keiner.
Vielleicht werden sie jetzt nur besser diagnostiziert. Es gehen auch mehr Menschen zum Arzt, wenn sie aus ihrer Grübelei und Düsternis nicht herausfinden. Depressive haben heute weniger Scheu vor der Öffentlichkeit. Auch Prominente bekennen sich zu der Krankheit – wie der Fußballer Sebastian Deisler, der Zehnkämpfer Christian Schenk, der Trainer Marco van Basten oder der Schlagersänger Heino.
Ganz sicher ist nur: Jeder hat eine andere Geschichte und eine andere Seele. Was dem einen hilft, hilft dem anderen nicht. Wer heilt, hat Recht.
In der Psychotherapie haben besonders zwei Methoden – man nennt sie kognitive Verhaltenstherapie und interpersonelle Therapie – Erfolge bei der Behandlung von Depressiven vorzuweisen. Ein Regisseur spricht vom Wunder der Gruppentherapie. Er hat es beim Gespräch über seine Depressionen erlebt: Fremde Leute, ebenfalls Betroffene, haben ihn immer weiter bis an den Punkt der Wahrhaftigkeit geführt. Zuerst Schmerz, dann Entlastung.
„Es gibt nie die Depression an sich, sondern immer nur den einzelnen Menschen, der eine Depression hat“, sagt Annette Simon, Psychoanalytikerin.
Ihre Patienten sind zwischen 24 und 63 Jahre alt. Neue Patienten müssen zwölf Monate auf einen Termin warten. Dann legen sie sich – dreimal die Woche für 50 Minuten – bei ihr auf die Couch und reden sich den Kummer von der Seele. „Der Druck in unserer Gesellschaft hat zugenommen, wir spüren das doch alle“, sagt sie. Viele Menschen haben Angst vor Verlusten und eigenem Versagen. „Die Depression hat immer einen entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund. Ob er sich auswirkt, hängt mit Auslösern zusammen.
„Annette Simon hat sich nach der Wende für die Ausbildung zur Analytikerin entschieden. Die gab es in der DDR nicht. Die Psychoanalyse wurde 1953 auf der Pawlow-Konferenz in Leipzig als bürgerliches Wissen bezeichnet, als überholt. Der Dichter Franz Fühmann setzte sich sieben Jahre lang dafür ein, dass 1983 Sigmund Freuds Aufsatz „Trauer und Melancholie“ von 1917 in der DDR erscheinen durfte.
Dr. Haiderun Lindner ist Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin. Bis November hat sie keinen einzigen Termin frei. „Heute kommen viel mehr Leute. Wir leben in einer Luxuszeit, weil wir unsere Gefühle wichtig nehmen können. Früher sind die Depressiven in der Zimmerecke verdämmert. Meine Großmutter war ihr Leben lang depressiv.“ Heute sei das Selbst-Ideal so hoch, sagt sie, dass man daran verzweifeln könne. Wir funktionieren lange gut, wenn unsere Kompensationsversuche klappen – Partnerschaft, Beruf, Kinder, Stärke, Schönheit. Wenn etwas Wichtiges weg bricht, geht es ganz nach unten. „Menschen, die sich schlecht fühlen, erreichen durch ihre Ängste nie einen Sehnsuchtsort.
„Aber die Ärztin erlebt in ihrer Arbeit auch, dass Menschen sich verändern können – „ein erlösender Gedanke“.
Magda Dudel, 30, ist in der letzten Phase ihrer Ausbildung zur analytischen Psychotherapeutin. Die junge Frau mit dem Outfit einer wilden Braut will Menschen heilen, die meistens älter sind als sie. Bisher haben ihr alle Patienten Vertrauen entgegengebracht. „Ich bin da ja nicht privat. Es ist auch ein Handwerk.“ Sie muss entscheiden können, ob einer ein Gespräch oder Tabletten oder die sofortige Einweisung ins Krankenhaus braucht. Sie darf sich nicht irren. Es kann um Leben und Tod gehen.
„Depressionen können jeden treffen. Du weißt nicht, wie stabil du an einer bestimmten Stelle bist, und du weißt nicht, was das Leben für dich bereit hält“, sagt sie.
Anders als es in den USA üblich und von Woody Allen bekannt ist, sieht Magda Dudel die Psychoanalyse nicht als eine Lebensbegleitung. „Die Analyse muss nach drei bis fünf Jahren auch ein Ende und ein Ergebnis haben. Der Patient soll kein anderer Mensch werden, aber er sollte sagen können: Ich bin endlich der, der ich immer war und der, der ich sein kann.
Wer bin ich?
Ein geliebter Mensch? Ein Sandkorn im Universum? Ein Opfer meiner Erziehung? Ein dünnhäutiges Individuum? Ein glückliches Naturell, frei von Anfechtungen?
Jeder Mensch stellt sich solche Fragen. Er wird sie nicht immer auf gleiche Art beantworten können. Denn er erlebt mit Sicherheit Erschütterungen, die seine Gefühle für eine bestimmte Zeit verändern. Gefühle wie Trauer oder Angst.Trauer ist ein unerlässlicher Teil unserer sozialen Beziehungen, Ausdruck eines innigen Bindungsgefühls. Und ohne Angst, als Alarmsignal und Schutzreflex seit jeher im Gehirn gespeichert, könnten wir nicht überleben. Jeder hat Angst, weil er Angst haben muss. Aber Trauer und Angst werden nach einiger Zeit überstanden. Unser Gehirn tut alles, um den Zustand der Normalität wiederherzustellen.
„Kummer ist wie ein demütiger Engel, der dich mit kraftvollen klaren Gedanken und tiefen Gefühlen zurücklässt. Die Depression dagegen stürzt dich wie ein Dämon ins Entsetzen.“ Das schreibt Andrew Solomon in dem Buch „Saturns Schatten“. Er hat lange mit dem Dämon gekämpft.
Depressionen machen biologisch keinen Sinn. Sie werden unlenkbar, sie verselbstständigen sich. Der immer tiefer in ihnen versinkende Mensch verliert das Elementare: seinen Selbsterhaltungstrieb. Er kann nichts machen, was gut für ihn ist. Er spürt nichts als große Leere.
Die Krankheit steht vor einem größeren Hintergrund. Der Einzelne ist in der pluralistischen Gesellschaft für alles selbst verantwortlich, gleichzeitig zerfallen Sicherheiten, und die Solidarität verschwindet.
Die Professorin Isabella Heuser, Psychiaterin in der Charité, sieht in Depressionen ein globales Phänomen. Überall müssten Leute in immer kürzeren Zeiteinheiten immer mehr leisten. Unserer Gesellschaft fehlen Ruhe und feste Ritualen. „Ein ritualisiertes und damit auch monotones Leben hat etwas Entspannendes.“ Man muss für sich selbst sorgen: Tempo rausnehmen, Handy ausschalten, Mails löschen. „Das muss man lernen. Wir trauen uns das zu wenig.“Manchen Menschen fällt das schwer.
Mancher weiß auch gar nicht, wie ihm geschieht. B. hatte sich auf ihr Kind gefreut. Aber nach der Geburt, da war sie 32, fühlte sie sich immer schlechter. Sie wusste zunächst nicht, dass sie an einer postnatalen Depression litt. „Ich hatte große Angst, dass ich meinem Kind etwas antun könnte. Ich wollte aus lauter Sorge nicht mehr mit ihm alleine sein. Ich dachte, ich werde verrückt.“ Sie wurde durch einen verständnisvollen Ehemann aufgefangen und später durch Tabletten stabilisiert.
N., 28, ein Informationstechniker, wuchs zwischen zwei Kulturen auf. Er war ein sehr intelligentes, wahrscheinlich hochbegabtes Kind, das zu Aggressionen neigte. Die Eltern trennten sich. „Ich habe keine Gefühlssicherheit erlebt“, sagt er. „Ich habe noch keinen Menschen im Leben gefunden, der mir irgendeinen Halt gegeben hätte.
„Das Studium brach er ab. Tageweise geht er zu einer Arbeit im Labor, die gut bezahlt wird. An den anderen Tagen kifft und schläft er. Nur das. „Wenn ich aufwache, stelle ich mir den Tag vor und habe keine Lust auf ihn. Mit Schlafen und Kiffen mache ich mein Nichtstun erträglich. So drehe ich nicht durch.“ Am Telefon meldet er sich auch am Nachmittag mit verschlafener Stimme. Die Depressionen haben sich vor langer Zeit in sein Leben geschlichen.
Der junge Mann ist groß und schlank, er sieht sehr gut aus, und er redet über sich wie über einen Leichnam. Oder wie über einen Fremden: „Ich habe enorme Angst vor mir. Ich halte mich für fähig, Leuten was anzutun. Ich bin in allen Dingen extrem, um mich am Leben zu fühlen.“ Er hat schon viele Therapien gemacht, er nimmt Tabletten. Sie haben die Depressionen schwächer gemacht, aber sie sind immer da. „Meine einzige Hoffnung ist, dass ich einen Weg finde, damit umzugehen. Wie ein Behinderter mit seinem Rollstuhl.“ Wer mit diesem Mann spricht, sitzt dem Unglück gegenüber.
Warum ist es so, dass die meisten Menschen traurig sein können und sich davon erholen? Dass sie unangemessen reagieren, aber später die Balance finden? Warum bekommen andere Depressionen?
Die Krankheit hat selten nur eine Ursache. Angeborene Veranlagung und äußere Belastungen wirken häufig zusammen. Kinder von Depressiven erkranken mit höherer Wahrscheinlichkeit. Akute Krisen, meist aber über längere Zeit gehende, den Betroffenen unlösbar erscheinende Konflikte – Stress, Nichtanerkennung, Mobbing und Demütigung – können zur Depression führen, aber auch körperliche Erkrankungen wie Schilddrüsenfunktionsstörungen. Dazu kommen soziale Faktoren, die Anpassung an neue Umstände verlangen – das kann Arbeitslosigkeit, Armut, Berentung sein, aber auch eine Heirat oder der Umzug in eine neue Wohnung. Eine Freundin, selber Psychologin, brauchte Monate, um nach einem Umzug aus ihrer Schwermut zu erwachen.
All das kann zu neurobiologischen Veränderungen im Hirnstoffwechsel führen. Serotin und/oder Noadrenalin sind dann in zu geringer Konzentration vorhanden, oder die Übertragung zu den Nervenzellen funktioniert nicht richtig. Wenn die Verbindung gestört ist, verändert das auch die Gefühle.
Bei schweren Depressionen helfen nur Medikamente. Sie machen nicht süchtig, und sie verändern auch nicht die Persönlichkeit. Bei leichten Depressionen helfen psychotherapeutische Behandlungen. Viele Menschen brauchen beides.
Unter Medizinern gibt es heftige Debatten über Antidepressiva. Eine neue Untersuchung legt nahe, dass sie vor allem durch den Placeboeffekt wirken. Andere Forscher werfen der Psychiatrie und Pharmaforschung vor, zu schnell eine normale Traurigkeit zur Depression zu erklären.Professor Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie an der Universitätsklinik Leipzig, kritisiert diese Veröffentlichungen scharf, weil sie „Patienten verunsichern und Menschenleben kosten können“.
Etwa 50 Prozent der Erkrankten sprechen nicht gleich auf das erste verordnete Medikament an. Es gibt etwa 25 in Deutschland zugelassene Antidepressiva mit verschiedenen Wirkstoffen. Mancher muss lange suchen, bis er die richtige Tablette findet. Er muss überhaupt lange durchhalten: Oft tritt die Wirkung erst nach zwei bis acht Wochen ein. Bei der Psychotherapie dauert es meist noch länger. Riskant für einen Suizidgefährdeten. Man darf ihn dann nicht allein lassen.
Es gibt auch Leute, die schon nach sechs Tagen ihr Medikament wütend in den Mülleimer feuern: „Gar nichts hat sich bei mir gebessert!“
Geduld. Man muss diese Tabletten vielleicht das ganze Leben einnehmen. Für Gesunde ist das oft befremdlich. „Wann kannst du dieses Zeug endlich absetzen?“, fragen besorgte Freunde. „Willst du nicht wenigstens auf eine geringere Dosis umsteigen?“
Bei schweren Depressionen geht das nicht. Wer die Tablette einfach absetzt, stellt den alten Zustand her: Inzwischen ist im Gehirn nichts zusammengewachsen oder repariert. Die Verbindung bestimmter Nervenzellen läuft bei einem Depressiven nur über zugeführte Botenstoffe.
R. hat an Gewicht zugenommen, aber sie würde die Tabletten auch nehmen, wenn ihr deshalb die Haare ausfielen. Kein Preis ist ihr zu hoch, wenn dafür die Abstürze in dunkle Täler aufhören. „Mein Medikament ist eine Begnadigung.“
B. zählt vor jedem Urlaub die Tabletten genau ab, für jeden Tag eine. „Wenn ich sie zu Hause vergessen sollte – ich würde auf der Stelle umkehren und sie holen!“
Bevor sie die Antidepressiva eingenommen hat, sagt D., habe sie immer nur auf den Straßenboden vor ihren Füßen geguckt. „Jetzt erst sehe ich die Häuser.“
Depressive nehmen ihre Umgebung oft dunkel, schemenhaft und neblig wahr. Richtige Behandlung bringt in ihre verschattete Welt wieder die Farbe. Sie sehen sie mit anderen Augen.
Die Wissenschaft weiß noch nicht alles über die Krankheit. Es heißt, sie könne auch Herzbeschwerden, Demenz oder Knochenerkrankungen auslösen. Appetitzügler können wohl auch Depressionen verursachen. Der Zusammenhang zwischen Stress und dem Ausbruch der Depression ist nachgewiesen. Schon gesunde Ernährung, Joggen und Spazierengehen könnten vielen Erleichterung bringen.
Einen Versuch ist es wert
Depressive, so sagen die Wissenschaftler, sind zwischen den schweren Phasen ihrer Krankheit angenehme Menschen: freundlich, hilfsbereit, warmherzig, zuverlässig, pflichtbewusst, zwischenmenschlich ausgleichend. Sie erfüllen bis zur Erschöpfung Anforderungen, die gar nicht an sie selbst gestellt werden. Oft zeigen sie einen Perfektionsdrang bis zur Pedanterie, und sie neigen oft zur Putzsucht.
Bei R. stehen die Bücher alphabetisch geordnet im Regal, alle Gewürzdosen in Reihe, mit dem Etikett nach vorn, Pullover liegen im Fach auf Kante. „Ich bekämpfe mein inneres Chaos, indem ich wenigstens in meiner Umgebung auf Ordnung achte“, sagt sie. „Ich habe ein Gefühl von Geborgenheit, wenn alle Dinge immer an ihrem Platz sind. Meine Haltegriffe.“
D., eine große, strahlende Frau, sagt, dass sie sich extrem an soziale Erwartungen angepasst habe, „denn ich will nicht, dass man mir meine Depression anmerkt“. Sie redet ganz wenig darüber. Nur ihr Freund weiß, wie dünnhäutig sie ist, wie zermürbt, oft mutlos und selten ausgeschlafen. Für den Partner ist das Leben mit einer oder einem Depressiven niemals leicht. Er muss viel verstehen und aushalten.
B. hat gelernt, ihren Zustand nicht zu verheimlichen, sie sagt es, wenn sie nichts unternehmen will, sondern zu Hause bleiben und schlafen möchte. „Ich glaube, dass ich nie geheilt bin. Aber ich habe Fortschritte gemacht, ich passe jetzt besser auf mich auf. Bin okay seit drei Jahren.“
Ansprechpartner
Bei Anzeichen einer Depression gibt es Hilfe und einen kostenlosen Selbsttest: www.kompetenznetz-depression.deInformationen zur Therapien: www.charite-psychiatrie. de.
Für Menschen in Problemsituationen
Berliner Krisendienst: 390 36-10 bis -90, auch nachts.
Kostenlose Beratung zur Wahl geeigneter Therapeuten: Psychotherapie-Informations-Dienst: 0228/74 66 99 oder www.psychotherapiesuche.de
Online-Informationen für Betroffene und Angehörige sowie Adressen von Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen: Deutsches Bündnis gegen Depression e.V., www.buendnis-depression.de
Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Gründung im Juni 2008.
Prof. Ulrich Hegerl, Vorsitzender und Depressionsforscher: „Mit Hilfe der Stiftung soll Forschung angestoßen und den Betroffenen schnell und kompetent zu einer optimalen Behandlung sowie mehr Akzeptanz in der Gesellschaft verholfen werden.“Schirmherr der Stiftung ist der Fernsehentertainer Harald Schmidt.
Literaturempfehlung
Ulrich Hegerl, Svenja Niescken: „Depressionen bewältigen: Die Lebensfreude wiederfinden: So erkennen Sie frühzeitig die Signale, finden wirksame Hilfe und beugen Rückfällen vor“, Trias 2008
Andrew Solomon: „Saturns Schatten. Die dunklen Welter der Depression“, Geo und Fischer, 2001
Regine Sylvester, Berliner Zeitung 12.07.2008