Vor zwanzig Jahren

Vorwort:
Eigentlich hatte ich geplant, diesen Beitrag gleich Anfang dieses Jahres zu veröffentlichen. Die Erinnerungen, dass sie sich zum 20.Mal jähren, das und noch mehr hat mich auch in diesem Jahr ein großes Stück Kraft gekostet und mich nicht nur deprimiert, sondern auch depressiv gemacht.

Da hatten wir Januar 2005. Für die meisten war dieser Monat einer wie viele. Für mich nicht.

Vorausgegangen war ein Jahr, das mich restlos fertig machte. Ich war immer noch mit dem Vertrieb von Finanz- und Versicherungsprodukten beschäftigt. Ein Beruf, den ich gehasst habe wie die Pest. Erst im Nachhinein hatte ich gemerkt, dass Vertrieb das Schlimmste war, was ich mir zumuten konnte. Diesen chronischen Stress hatte ich also schon seit 12 Jahren ertragen, weil es im hohen Norden Arbeitsplätze, in die ich gepasst hätte, so gut wie nicht gab.

Die Zeit um Weihnachten und „zwischen den Jahren“ tat mir immer gut. Ich hatte noch nie ein Faible für das Fest, aber ich wusste, dass fast alle potenziellen Kunden schwer beschäftigt waren, mit ihren Lieben zu feiern und die Familie zu genießen. Von den negativen Aspekten will ich hier nicht reden. Jedenfalls war nach der ersten Dezemberwoche erstmal Pause angesagt, die bis in die erste Januarwoche reichte. Eine schöne Zeit, die mir a) Kraft gab, aber b) war es schwer, wieder ins Fahrwasser der täglichen Arbeit zu kommen.

Diesmal war es schlimmer: 2004 war beruflich und finanziell eine absolute Katastrophe. Die Pause brauchte ich dringend, um überhaupt wieder in Farbe zu sehen. Am zweiten Weihnachtstag erreichte eine schlimme Nachricht, die viele schockiert hat, mich förmlich fertig machte. Der Tsunami im indischen Ozean am 26.12.2004 (Wikipedia). Das war ein zusätzliches „Sahnehäubchen“ auf meinem inneren Stress, den ich erlebte, weil das Ende meiner „ruhigen“ Pause nahte. Tagelang übertrafen die Nachrichten, die von gestern in ihrem Schrecken. Während zunächst von „vielen“ Toten die Rede war, endete es mit ca. 230.000 Menschen, die ihr Leben verloren.

Zu diesen äußeren Begleiterscheinungen, die ja nicht unmittelbar mit mir zu tun hatten, kamen Neuerungen in der Finanz- und Versicherungsakquise hinzu. Jede Beratung, jeder Abschluss musste in jedem Detail protokolliert werden. Weil bei mir der Papierkrieg schon unerträglich war, war jetzt der Punkt erreicht, wo ich nicht mehr wusste, wie ich das schaffen sollte. Ein versierter Versicherungsprofi wird sich darüber amüsieren, dass ich an solchen „Kleinigkeiten“ zerbrochen bin. Aber wir sind eben verschieden.

Fakt war jedenfalls, dass ich die Kurve in die Arbeit nicht mehr schaffte. Ich war komplett ausgebrannt, auch wenn ein „Burnout“ oft Menschen ausbrennt, die sich einer Sache so verschrieben haben, dass es über ihre Kraft geht. Mich kostete das Leben mit der Arbeit, die ich hasste, das ewige sich selbst in den Hintern treten, das Ertragen von negativen Nachrichten einfach zu viel Kraft. Gegenhalten konnte ich nicht mehr. Jedes Telefonklingeln, jedes ankommende Fax, jeder Gang zum Briefkasten, das Öffnen der Post – alles fühlte sich an wie der „Gang nach Canossa“. Wenn ich selbst mal ein Fax abschickte (das galt vor 20 Jahren noch als fortschrittlich), konnte ich das Geräusch des Gerätes nicht ertragen. Nachdem ich mich in meiner Unfähigkeit tage- und wochenlang hingeschleppt hatte, nahm ich allen Mut zusammen und sprach mit meinem Hausarzt.

Diagnose: Schwere Depression

Was eine Depression ist, war mir grundsätzlich klar. Aber Schweregrad und Umfang und Behandlung – alles war mit einem dicken Fragezeichen versehen. Ein Blick ins Internet und nach dem Code, der auf der Krankschreibung stand, ergab:

Diagnose nach ICD-10: F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome

Eine depressive Episode mit mehreren oben angegebenen, quälenden Symptomen. Typischerweise bestehen ein Verlust des Selbstwertgefühls und Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld. Suizidgedanken und -handlungen sind häufig, und meist liegen einige somatische Symptome vor.

Inkl:

  • Einzelne Episode einer agitierten Depression
  • Einzelne Episode einer majoren Depression [major depression] ohne psychotische Symptome
  • Einzelne Episode einer vitalen Depression ohne psychotische Symptome

Die Behandlungsmöglichkeiten unseres Hausarztes sind natürlich begrenzt, so dass ich ihn mit einem Rezept für Opipramol und einer Liste verließ, auf der Fachärzte und Therapeuten standen, die im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie

Einer der Ärzte von der Liste war Allgemeinarzt und hatte seine Praxis in unserem Stadtteil. Den suchte ich auf. Beim ersten Besuch verschrieb er mir erstmal ein richtiges Antidepressivum, ich erinnere mich an den Namen: Citalopram. Irgendwann gab es auch ein Gespräch, in dem er mir sagte, eine Psychotherapie würde nichts bringen. „Wenn Sie kein Verkäufer sind, kann ich auch keinen aus Ihnen machen.“ und später meinte er: „Ich empfehle Ihnen eine stationäre Behandlung in einer Fachklinik.“

Das war der Hammer! Für mich. Ich war doch nicht „krank“!? Ein paar Wochen gärte dieser Gedanke, und nach und nach kam ich zur Einsicht, hier geht es um mehr als ein Wehwehchen. Zumal auch mein Antrieb, konstruktiv in die Arbeit zu kommen, komplett fehlte. Irgendwann war ich so weit, um meine Einweisung zu bitten.

Was folgte, beschreibe ich hier nur stichwortartig:

  • drei Jahre lang verschiedene Antidepressiva.
  • Anfang 2008 Erstmals spürbar wirksam: Trevilor (Venlafaxin),
  • 2005 Juni bis September: Fachklinik für Psychotherapie, Schleswig, subjektiv ohne Erfolg
  • 2005-2006 Aktivitäten in mehreren Internetforen, auch Fachforen für Depressionen
  • 2006 eigenes Internetforum, ab da intensives Lernen von HTML, CSS und verschiedener Techniken
  • Anfang 2008 erste konstruktive Gedanken, beruflich wieder aktiv zu werden
  • 01.05.2008 Gewerbeanmeldung als Agentur für Webdesign und Webhosting
  • Herbst 2008 auf eigenen Wunsch 6 Wochen stationäre Behandlung in der Psychosomatischen Schön-Klinik Bad Bramstedt
  • die ganze Zeit ohne Unterbrechnungen: ambulante Psychotherapie in Gruppen oder Einzeln
  • Ende 2008 Antidepressiva abgesetzt (bis auf kleine Dosis Trimipramin)
  • bisherige Arbeit formell beendet
  • Nach der Verhaltenstherapie und den zahllosen Einzel- und Gruppengesprächen, kann ich mich immer noch nicht als „geheilt“ bezeichnen. Die Depression lauert immer. Die Dame in schwarz kommt dann und wann zu Besuch. Aber ich kann mit der Depression leben und komme ohne ärztliche Hilfe aus depressiven Tiefs heraus.

Weshalb kommt mir das alles 2025 hoch?

Wie ich anfangs schrieb, hatte der Auslöser mehrere Komponenten. Der Kurzurlaub zum Luft holen im Dezember, der Tsunami im indischen Ozean, die Verkomplizierung meiner ohnehin verhassten Arbeit – alles zusammen war an diesem Jahreswechsel da und lähmte mich. In den ersten Jahren danach hatte ich immer wieder das Jahres-End-Tief, was allmählich weniger wurde. In diesem Jahr das runde „Jubiläum“ (netter Ausdruck für so einen Zusammenbruch!) dazu. Fiel mir dieses Jahr schwer.

Wie ging’s weiter?

Mich kostet dieser Beitrag enorm Kraft. Und wenn er vollumfänglich alles beschreiben würde, käme ich nicht dazu, ihn zu veröffentlichen. Deswegen lasse ich heute, am wunderschönen 1. Mai alle fünfe gerade sein und drücke auf den „Veröffentlichen-Button“, damit ihr ihn lesen könnt. Ich werde ihn von Zeit zu Zeit fortsetzen.

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